Flussbett und Kirchenschiff

Was ist die Verbindung zwischen mir, der Natur und der Gesellschaft? Auch wenn ich es nicht ganz klar benenne, ist das vielleicht am ehesten worum es in diesem Text geht. 
Meiner Ankunft in Orleans, der Stadt an der Loire.

Von Fluss zu Fluss führt mein Weg mich durch Frankreich.

Meuse, Marne, Seine, Loigne – und jetzt fließt der größte aller Ströme dieses Landes an mir vorbei. Der größte und vielleicht der schönste:

Die Loire.

 

Über 1.000 Kilometer spannt sie ihren Bogen aus den Bergen und Hügeln des Südens durch die endlosen Felder Zentralfrankreichs – bis sie die zerklüftete Sandstrandküste im atlantischen Nordwesten erreicht.

Ihr Wasser ins Meer ergießt, wo seine Reise von neuem beginnt.

 

Wunderschön, wild und groß, ist die Loire für mich ein besonderer Fluss. Am nördlichen Bogen – kurz vor Orleans – an ihre Ufer zu stoßen, war eins der größten Etappenziele, die ich mir für die tausenden Kilometer meines Weges durch Europa vorgenommen habe.

Das und der Atlantik… und die Pyrenäen… Achja und die Bardenas Reales…

Naja, es liegen doch ein paar Naturlandschaften auf dem Weg, auf die ich mich schon lange freue.

Doch ist die Loire die erste, die ich erreiche. Und sie schlängelt sich seit vier Jahren durch meinen Kopf. Seitdem ich am Ende meiner ersten Radreise, unmittelbar nach der Ankunft bei Le Mont Saint Michel, ihre Ufer mit dem Van erkundete.

Seitdem wollte ich mit meinem Rad zurück an ihre Ufer.

 

Zurück zu dem breiten Strom dessen Deiche seiner Weite ausnahmsweise gerecht werden. Zwischen denen sich eine ganze Welt abspielt, die nurnoch selten entdeckt werden kann. Zumindest hier… in Europa.

Sandbänke die sich aus flachem Wasser erheben, zu Inseln auftürmen, auf denen kleine Biotope entstehen – beidseitig umspült vom Leben strecken Weiden ihr Geäst der Strömung entgegen. Hoffen darauf, dass ihre Zweige abbrechen und davongetragen werden, um andernorts hängenzubleiben und auszutreiben, sodass sich bald neue Bäume über die feinen Wellen des Flusses neigen. Wellen unter denen Welse liegen, in der sanften Strömung ihren Nachwuchs großziehen und unter großen Bugwellen davonrauschen, wenn ich durch das knietiefe Wasser warte – auf der Suche nach einer tieferen Zone, die Abkühlung und Klarheit verspricht. Ich, nicht der Wels. Wie eine Maus, die unter einem Tischtuch hindurchhuscht, zieht die Wasseroberfläche über glatte Rücken hinweg. Der Wels, nicht ich.

Nur ihre Größe erinnert mehr an Hunde als an Mäuse.

 

Es ist ein fantastischer Fluss, von dem ich wusste, dass er kommt.

 

Womit ich dagegen nicht gerechnet habe, war die Stadt: Orleans.

Ich wusste, dass es sie gibt, dass ich bald da sein würde. Und doch taucht sie wie aus dem nichts vor mir auf, wo eben noch die zahllosen Inseln der Loire meinen Blick bannten.

Grüne Kronen abgelöst von weißen Türmen.

Die Kathedrale hätte ich wohl von weitem sehen können, wenn ich meinen Blick vom Wasser zum Horizont gewandt hätte.

Es scheint zwei Stadtzentren zu geben: Flussbett und Kirchenschiff.

 

An griechische Tempel erinnern mich die Ausläufer seiner Türme, die zylindrisch in den Himmel ragen. Offene Kreise, aus Säulen errichtet, durch die blau der Himmel schimmert. So filigran an ihren Unterbau angeschlossen, dass der Eindruck von Transparenz sich durch das ganze Bauwerk zieht. Als wären auch die Wände darunter nicht massiv, sondern ganz und gar durchlässig – transzendent.

Und genau das sollten sie auch sein, als sie errichtet wurden.

Durchlässig und doch erhaben.

 

Vielleicht sind die monumentalen Kirchen, an denen jedes Detail der Harmonie der Natur nachempfunden ist, das beste, was das Christentum hervorgebracht hat. Weil sie noch heute Orte sind, die uns den Zugang zu uns selbst vereinfachen. Als Portale gebaut, die Zugang zur Stille zu gewähren.

Vor allem dort, wo die Schönheit der Natur nicht wie hier durchs Stadtzentrum fließt halte ich diesen Zugang für immer wichtiger.

Zu Gott, zu uns, zum Universum, zur Energie… zur geistigen Ruhe.

Nennt es wie ihr wollt, in dieser Kirche, ist es leichter. Vielleicht gerade weil die Stadt und der Fluss so verwoben sind… es scheint ein Widerspruch zu sein, doch wahrscheinlich ziehen mich die weißen Tuffeau-Stein Straßen gerade deswegen magisch an. Halten mich im Bann und geben mir das Gefühl, dass ich nicht nur bleiben kann, sondern sollte.

 

Das kenne ich. Aus Prag und Ljubljana. Und von vielen kleinen Orten, deren Einzigartigkeit noch offensichtlicher ins Auge sprang. Denn eigentlich suche ich nicht nach Monumenten. Nicht nach touristischen Städten und weißen Gassen. Wenn ich überhaupt nach etwas suche, dann sind es Orte, die Menschen verbinden. Miteinander und mit sich. Und dabei den Mut von Wandel versprühen.

Und letzteres, das tut weder die Kathedrale noch  Orleans – sicher nicht. Erinnert mich ihr Gesicht doch an die Lobpreisung alter Zeiten, unter der das Jetzt und die Zukunft leiden. Wenn die Geschichten der Ahnen wichtiger werden, als das Leuchten in den Augen von Kindern.

 

Ja es sind all diese Ebenen, die mir die Stadt in ihrem eigenen Licht erstrahlen lassen. Die Gegensätze – der Fluss, die Kirche und ihre alten Gassen.

 

Also will ich bleiben.

Nur wo?

 

Nicht zum ersten Mal, stehe ich vor dieser Herausforderung. Kein Geld für Übernachtungen, keine Bekannten und keine Möglichkeiten über Couchsurfing einen Host zu finden. Zwar könnte ich  auf einer der Inseln im Fluss campen… aber das wäre wirklich  zu leicht. Abgesehen davon, muss ich nach einer Woche an den Flüssen Frankreichs meine Akkus laden. Und auch eine Waschmaschine wäre nicht schlecht. Ganz zu schweigen von einem Bett…

 

Gut, dass ich inzwischen weiß, wie ich Menschen finde, die mich willkommen heißen… nicht in großen Kirchen, soviel kann ich vorwegnehmen.

 

Stattdessen beginnt meine Mission in den belebtesten Gassen.

Schritt 1: Durch die Straßen der Stadt tingeln, bis ich Menschen sehe, die mir spontan besonders auffallen. Wie die Gruppe Studenten, die nach Heavy Metal aussieht und dort im Café sitzt. „Bonjour“, spreche ich sie an:  „wo in eurer Stadt könnte ich Leute finden, die einfach so wildfremde Reisende aufnehmen würden?“, grinse ich ihnen mein Anliegen entgegen. Verdutzte Gesichter. Verlegenes Lächeln. Sie wären es schonmal nicht – was auch mehr als verständlich ist. Aber wenn ich die Straße hoch fahre, weg vom Flussufer Richtung Kathedrale, dann komme ich in die Rue de Bourgogne. Das ist die Hipster Straße der Stadt. Vielleicht finde ich da ja was…

 

Vorbei an Fachwerkhäusern in denen einst Jeanne d’Arc die Befreiung Frankreichs plante, über glattes Pflaster und unter stählernen Laternen hindurch, die noch heute die lange Geschichte der Fassaden erzählen, die sie nachts beleuchten. Kleine Fenster, viel Struktur und helle Aufruhe  – Café, Creperie und Sandwhich-Läden reihen sich aneinander und ich rolle daran vorbei.

In einem sitzt der nächste Metal Fan. Dieser hat etwas mehr… Patina. Auch er kann mir nicht direkt weiterhelfen. Doch schickt er mich nach ein paar Schleifen weiter die Straße runter. Maison de Bourgogne. Le 108. Ein Raum von und für Kunstschaffende.

So perfekt das auch klingt, so hat es doch zu – das 108e Haus der Straße. Französischer Nationalfeiertag… Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – das sind doch Werte, die mir bei meiner Mission helfen sollten.

Oder?

 

Ein Bücherwurm vor dem geschlossenen Raum weiß auch nicht weiter. Gibt mir aber das Gefühl, dass es sich lohnen könnte, durch die Nachbarschaft zu streunern. Und tatsächlich – ich entdecke ein kleines Atelier, vor dem eine Party läuft! Oder… laufen sollte. Eher noch in Vorbereitung ist. Oder auf Gäste warten wartet? Inzwischen ist es Nachmittag. Ich bin etwas schlapp und die „Bedienung“ grinst mich an. Vielleicht weil ich zuerst gegrinst hab… Ich setze mich an einen der massiven Holztische und frage, was das für ein Ort ist.

„Atelier Jacques Robak“ prangt in Druckbuchstaben an der Wand.

Zeit der neuen Römer… so ungefähr ist auch das Gefühl auf dem Platz, der sich vor dem Haus unter junge Linden duckt.

Trotz der offensichtlichen Antwort kommen wir schnell ins Gespräch, Celine und ich – das ist der Radreise-Bonus.

 

Nach einer Weile sitzt auch Matthieu an meinem Tisch. Dann Kamil und Axel. Später Arthur und Cassandra.

Sie zeigen mir was sie malen. Und wie?! Schon da bin ich hin und weg, vom künstlerischen Verständnis der Truppe. Sie erzählen von Kunsthochschulen und Phänomenologie. Der Philosophie der intersubjektiven Wahrnehmung. Wie zeigt sich die Welt unserem Bewusstsein?

Was sehen wir, wenn wir uns umschauen?

Das was ist, oder unsere Bewertung davon?

 

Würden auch andere Menschen an Tempel und Durchlässigkeit denken, wenn sie die Kathedrale der Stadt erblicken? Wem würden sonst Bilder untergehender Königreiche in den Sinn kommen, wenn er durch ihre Straßen läuft? Wer sieht den Fluss als positives Beispiel für Landschaftsgestaltung?

Ist die Realität dahinter nicht viel einfacher? Was sehen wir alle gleich?

 

All das sind Fragen, mit denen ich mich auf dieser Reise viel beschäftige. Bisher nur auf einer anderen Ebene. Und Orleans präsentiert mir die Denkschule dazu. Einfach so… Wegen eines Bauchgefühls.

Zufall oder Determinismus?

Auch das eine Frage davon, was wir sehen wollen. Woran wir glauben und wie wir urteilen.

 

Und woran ich glaube, das ist das Gute in Menschen. Womit ich hier fündig werde. Am Ende laden mich gleich drei der Menschen dieses Ortes ein, an dem die meisten einfach vorbeigehen. Was auch messbar ist, denn die Kassen der Veranstalter bleiben heute leer.

 

Cassandra, Gilles und Marie sind drei dieser Menschen, die Orleans für mich zum Leben erwecken. Indem sie Energie und Kreativität in seine alten Gassen stecken. Fragen stellen und unter Linden zeichnen und schreiben. Kunst kurieren und in Gedanken treiben. Lachen und mich willkommen heißen. Und Jazz Musik aus blechernen Instrumenten über Dächer schicken. Oder Gitarrenklänge hinterher.

Noten, die über kleine, glatte Ziegel tanzen.

Ziegel, die meine Gedanken schweifen lassen. Zu wandelnden Schlössern, Drachen und Flussgeistern.

Und zu der Frage, wie wir Menschen wirklich erreichen.

 

All das ist Orleans für mich, nach wenigen Stunden. Und wenige Stunden später schlafe ich wieder einmal in fremden Federn ein, die sich allzu vertraut anfühlen.

Wie immer viele Fragen im Kopf…

 

Wovon träumen, wenn das Leben ist?


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Kommentare: 1
  • #1

    Stephanie Oldehaver (Sonntag, 20 Juli 2025 10:50)

    Wunderschön,Juli :)
    Jeder Franzose,der das liest,wird stolz auf dich sein,so wie ich.