Statt wie gewohnt auf dem Fahrrad über die Straßen unseres Kontinents zu fahren, bin ich zu Fuß unterwegs. Ohne Weg, Dorf und jeglicher von Zivilisation treffe ich nur auf wenige Menschen. Dafür lausche ich der Stille.
Es ist eine einzigartige Natur-Erfahrung, die ich beim wandern durch Schottland machen durfte. Eine Erfahrung, die ich nicht missen will und allen empfehle.
Nichtsdestotrotz denke ich, dass ich Radfahrer bleiben werde.
Aber lies selbst, wenn du wissen willst, wie Schottland mich verzauberte.
Im Nordwesten Schottlands bricht der Morgen an.
Einige hundert Meter fällt die Felswand unmittelbar vor meiner Zeltplane ab. Hin und wieder zerrt ein Windstoß an ihr.
Dann geht die Sonne auf.
Grün strahlt sie ins Innere.
Grün wie die Plane und grün wie das Gras, das auf der einzigen Ebene des höchsten Punktes dieses Grates wächst.
Langsam werde ich wach und reibe mir den Schlaf aus den Augen.
7 Uhr? Viel zu früh!
Gerade als ich mich umdrehe, erinnere ich mich, dass ich gestern schon um 10 schlafen gegangen bin.
Dass ich noch eine Weile in den sternenklaren Himmel blickte.
Und dass ich mir bei den vorüberziehenden Sternschnuppen einen schönen Morgen wünschte.
Irgendwas sagt mir, dass er zu schön sein wird, um jetzt nicht aufzustehen.
Statt also weiterzuschlummern, schäle ich mich aus meinem Schlafsack und werfe einen Blick aus dem Zelt.
Mir bleibt der Mund offen stehen.
Denn die Welt unter mir ist in goldene Watte gehüllt.
Schwebende Berge gleiten völlig losgelöst vom Boden über ihre weichen Wogen dahin.
Ihre Füße, das Land und das Meer drum herum unter der magisch weißen Hügellandschaft versunken.
Schottland verschwunden im Dunst atlantischer Wolken.
Ich schwebe.
Eine Weile stehe ich nur so da und lasse meinen Blick über das lautlose Geschehen schweifen. Nichts rührt sich – nur ein paar Spatzen auf Jagd.
Sie schießen die Felswände hinauf, überschlagen sich überschwänglich und fallen direkt wieder dem Wolkenmeer entgegen.
Ein Hauch Violett mischt sich ins Gold.
Es bedeckt jeden Winkel der Welt unter mir.
Das Wolkenmeer.
Nur zerschnitten von den Ausläufern des Kammes über den ich heute wandern werde. Der sich wie eine riesenhaft zerklüftete Stufe aus dem Land erhebt. Als wäre die Kontinentalplatte gestern erst aus dem Boden gebrochen, um sich hier aufzustellen. Sich aus den Wolken zu erheben und die Dramatik der Natur hervorzuheben.
Meteorologie trifft Geologie.
Ein fantastisches Spektakel aus Wasserdampf und Fels, die ohne jede Regung in vollendeter Stille daliegen.
Wieder fährt mein Blick über den Kamm. Anthrazit-grau und schwarz hebt er sich dunkel vom Rest der Welt ab. Ehe ich mich versehe ist mein Lager gepackt und meine Beine tragen mich schon über die Kante des Grats. Sie setzen einen Fuß vor den anderen, immer wieder stehen bleibend, um mir die Zeit zu geben, mich vergewissern zu können, dass dieser Moment echt ist.
Dass das Wolkenwunder noch unter mir ruht.
Und um der Stille zu lauschen.
Dem am Gras rupfenden Geräusch gemütlich schmatzender Schafe.
Dem Pfeifen der Spatzen und wie ihre Flügel durch die Luft schneiden.
Dem haarfeinen Rauschen einer weit, weit entfernten Straße.
So weit, dass ich es nicht hören kann, wenn zwei Grashalme im Wind aneinander reiben.
Am lautesten ist das sumpfige Sabschen des Bodens unter meinen Sohlen. Nass grüßt das Hochmoor meine Socken und fügt ein neues Geräusch in die Stille, als ich die nächste Steigung erklimme.
Das Scharren von Krallen auf Stein.
Ein gigantischer Rabe steht da und beobachtet mich. Seine schwarze Silhouette hebt sich hart vom weich gezeichneten weiß-blauen Himmel hinter ihm ab. Abwechselnd dreht er je eines seiner Augen zu mir. Wendet den Kopf dabei so, als würde er mit bedächtig zunicken. Fast als würde er mich erinnern wollen… dass die Wunder dieser Welt wahr sind.
Verzaubert wandere ich weiter. Trinke nach einigen Stunden die letzten Tropfen aus meinen Wasserflaschen und blicke mich um.
Zeit nachzufüllen.
Doch auch, wenn meine Füße stetig im Morast versinken, ist Trinkwasser hier rar. Zur einen Seite die Felswand bin ich am höchsten Punkt des Moores, das die Täler mit Süßwasser speist. Nur fließt er hier eben noch nicht in Bächen, denke ich gerade als ich über einen Moos-überwucherten Fairy Pool stolpere – ein kleiner Teich zum Fuße eines tröpfelnden Wasserfalls.
Kurz frage ich mich, ob dieser Tag noch wundersamer werden kann. Dann lasse ich mich vom eiskalten Wasser erfrischen und breite mich zur Frühstückspause aus.
Während ich meine Porridge genieße, blicke ich über die plüschige Landschaft aus violettem Heidekraut auf Gold-braunem Grund. Und sehe die Ähnlichkeit zur Wolkendecke, die mich weiterhin umgibt… würde ein Einhorn vom einen auf das andere springen – ich würde es nicht in Frage stellen.
Stattdessen bleibt es bei kleineren weißen Gestalten, die rundlich und mit zwei gebogenen Hörnern im Wolkenland weiden.
Ihr blöken und Kauen bleiben die einzigen Geräusche, die mich neben meinen Schritten begleiten.
Die Sonne im Gesicht erinnert es mich an meine durchnässten Füße.
Längst drücken sich Blasen zwischen Zehen, Socken und Schuh.
Längst schmerzen meine Schultern unter dem Gewicht des Rucksacks.
Und doch trägt der Tag mich leicht – denn wirklich müde werde ich nicht.
Stattdessen treffe ich zwei Wandernde, die schon gestern meinen Weg kreuzten. Auch Megan und Iggy sind auf dem Skye Trail unterwegs, haben grad aber einen anderen Rhythmus als ich.
Also klettere ich wieder allein den nächsten Hang hinauf und stehe vor der felsigen Krönung dieser Wanderung. Den spitzen Zinken des Old Man of Storr.
Einer steinernen Krone, die mindestens 15 Meter in die Höhe ragt und mit mir das Land überblickt.
Oder vielmehr die Wolken, die über dem Land und inzwischen unmittelbar unter mir liegen.
Kurz schaue ich den Nebelschwaden zu, die nun sichtbar über die Steine wabern. Dann habe ich genug vom touristisch erschlossenen Highlight des Weges und folge ihm.
Gemeinsam tauchen wir in den Nebel ein.
Von einem Moment auf den nächsten wird es spürbar kälter. Der Dunst kriecht mir wie Dementoren in den Nacken und schickt mir Gänsehaut über die nackten Arme. Ein knorriger Baum reckt mir aus seine Äste entgegen. Scheint zu greifen nach Wandernden auf Irrwegen.
Doch wer den Pfad nicht verliert, findet sich überraschend auf asphaltierten Wegen wieder. Läuft an einem See vorbei, dessen Nebel ein Motorboot entschwebt. Leise gluckert es in die Leere.
Asphalt weicht Moor und ich stehe an einem Hang an dem das Meer zu rauschen beginnt.
Keine zweihundert Meter unter mir höre ich die Wellen auf den Strand schlagen – doch sehen kann ich sie nicht.
So dicht die Wolken von oben wirkten, so zäh sind sie auch mitten drin.
Eine verwunschen in den Hang gepflasterte Treppe führt mich durch perfekte Fragmentare hinab.
Uralte Farne bedecken die schottischen Nebelküsten.
Schritt für Schritt geht es über die rutschigen Steinplatten bis die ersten Wellenkämme dunkel aus dem hellen Dunst rollen. Sie durchziehen eine weite Bucht, deren gegenüberliegende Seite in steile Felshänge aufgeht.
Ein aus der Zeit gefallenes Wasserwerk rauscht vor sich hin, während Schafe über eine schmale Wiese grasen.
Wie die wohl hierhergekommen sind?
Ich klettere durch ein Flussbett, passiere ein paar der blökenden Wollknäuel und visiere ein Häuschen an, das sich an die Klippen schmiegt.
Vielleicht eine überraschende Unterkunft?
Sicher einmal – doch steht heute nurnoch seine dicke Kaminwand.
Einsam und wettergezeichnet laden ihre Steine zum verweilen ein.
Und scheinen einen Wunsch auf dem Sims zu tragen:
Denn diesem Ofen fehlt ein Feuer!
Rasch schlage ich mein Zelt in dem Teil des Hauses auf, der wohl einmal die Diele war, da sehe ich durch den Nebel auch schon Megan und Iggy die Treppe hinabsteigen.
Sofort stecke ich sie mit der Feueridee an.
Nicht dass es schwer wäre, aber in diesem kalt-feuchten Klima aus umwindeter Nacht könnte wohl niemand dem Gedanken an einen lodernden Kamin widerstehen.
Also erwacht er wenig später zu neuem Leben. Es knistert und knackt und neben dickem Rauch stoben Funken durch die Luft.
Auch wenn er fehlt – der Rest vom Haus – hält uns seine verbleibende Wand den Wind vom Leib und seine Feuerstelle wärmt Körper, Seele und Geist.
Bis spät in die Nacht sitzen, reden und lachen wir an diesem magischen Ort, bevor uns die Vernunft und das knapper werdende Treibholz in unsere Schlafsäcke schickt.
Lustig, denke ich noch beim einschlafen… dass so ein Tag wahr ist und Pferde mit Horn sind es nicht.
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Peter (Sonntag, 29 September 2024 19:58)
Wunderschön!